Kollektives Trauma Corona und Traumaberatung
Die Corona-Pandemie hat viele Opfer gefordert und zu einer allgemeinen psychischen Belastung geführt, die als Kollektivtrauma noch lange Folgen haben wird. Beratung, emotionale Entlastung und psychosoziale Unterstützung können Beiträge zur Bewältigung traumatischer Erlebnisse leisten.
Von Annabel Anbessa
Verständnis von Trauma
Obwohl der Begriff von Trauma mittlerweile häufige Verwendung findet, wird er nicht nur sehr unterschiedlich, sondern auch oftmals falsch verstanden und unpassend verwendet. Ein Trauma bezeichnet etymologisch erst einmal allgemein eine Wunde. Neben der Bedeutung als physische Verletzung handelt es sich bei Traumata in der Psychologie um starke seelische Erschütterungen, die Menschen erleben. Oftmals reichen die eigenen Ressourcen und Bewältigungsstrategien nicht aus um die schweren Belastungen oder andauernden, unangenehmen Umstände zu verarbeiten. Als entscheidendes Diskrepanzerlebnis löst dies bei den Betroffenen massive Überforderung und große Hilflosigkeit aus und führt zu einem empfundenen Mangel an Kontrolle und Sicherheit. In vielen Fällen wird das Selbst- und Weltbild dermaßen erschüttert, dass traumatisierte Menschen unter empfundener Haltlosigkeit, Angst und Entsetzen leiden. Die erlebten Gefühle und Sinneseindrücke werden dann so stark im emotionalen Gehirn abgespeichert, dass eine Verarbeitung und Integration in die eigene Biografie nicht gelingt.
Ein Trauma muss sich nicht gleich nach einem schweren Unfall, einer Naturkatastrophe, Krieg, Folter oder ähnlich furchtbaren Geschehnissen zeigen. Ganz sicher stellen diese Ereignisse hochtraumatische Situationen dar. Es können aber auch viel alltäglichere Dinge potenziell traumatisch wirken: so z.B. eine Trennung, Verluste oder Vernachlässigung. Unterschieden wird, ob ein Trauma ‚man-made’, sprich von Menschen verursacht wird, oder naturbedingt durch Zufall geschieht. Ausschlaggebend für das Erleben und die Folgen ist zudem, wie lange eine belastende Situation andauert und ob diese aktiv oder passiv erlebt wird. Neben Betroffenen können zudem auch Helfende Traumatisierungen erleiden. Viele unmittelbare psychische Reaktionen auf sehr belastende Erlebnisse sind grundsätzlich ganz normal. Ob ein Ereignis als traumatisierend erlebt wird oder nicht hängt zudem von den Umständen sowie den einzelnen Persönlichkeiten mit ihren individuellen Erfahrungen ab. Daher können traumatisierende Ereignisse letztlich ganz unterschiedlich aussehen. Weitere Differenzierung von Traumata und deren Einordnung in verschiedene Traumatypen soll im Folgenden geschildert werden.
Jegliche Reaktion auf ein traumatisches Ereignis ist zunächst als eine normale Reaktion auf ein anormales Ereignis zu interpretieren. Etwa die Hälfte aller Menschen in unserer Gesellschaft erlebt mindestens einmal im Leben eines oder mehrere solcher traumatischer Ereignisse (Vgl. Psychiatrie-Ambulanz WWU).
Typologien von Trauma
Bei den meisten Traumata handelt es sich um Typ-I Schocktraumata, singulär belastenden Ereignissen, welche meist detailliert erinnert werden aber überwältigend sind und keine Möglichkeit mehr bieten mit der Situation zurechtzukommen. Das kann ein Autounfall sein oder plötzliche Trennungen und Verluste.
Bei Typ-II Polytraumata handelt es sich dahingegen um komplexe, über lange Zeit anhaltende und wiederholt stattfindende traumatische Erfahrungen, die oft ohne detaillierte Erinnerung zu Verleugnung oder emotionaler Taubheit führen. Die emotionale Vernachlässigung als Kind einer depressiven Mutter kann bspw. zu einem Entwicklungs- oder Bindungstrauma führen. Langjährige Gewalterfahrung sowie sexueller Missbrauch und weitere, über mehrere Jahre belastende Situationen hinterlassen oft viel tiefere und ältere Traumatisierungen, die eine ganz andere physische und psychische Wirkung haben.
Über die Häufigkeit traumatischer Erlebnisse hinausgehend unterscheidet sich das Sekundärtrauma, bei dem es um die Art der Betroffenheit des traumatisierten Subjekts geht. Hierunter fallen Angehörige und Helfer von Menschen in Notsituationen oder als Zeugen von traumatischen Ereignissen wie bspw. Notärzte, Polizisten, Therapeuten sowie zufällige Zeugen von anderen furchtbaren Ereignissen.
Zuletzt lassen sich noch soziale Traumata und transgenerationale Traumata nennen. Ersteres meint traumatische Ereignisse, die viele Menschen kollektiv betreffen, wie bspw. ein Zugunglück, Terroranschläge oder auch Kriege – also Geschehnisse bei denen mehrere Menschen beteiligt sind und die eine breitere soziale Auswirkung zeigen. Letzteres Trauma ist in Deutschland vor allem durch die Nachkriegsgeneration bekannt geworden und betrifft in diesem Fall Kriegskinder, deren Eltern/Großeltern die Kriegserfahrung nicht verarbeitet haben und dies durch Verhaltensauffälligkeiten ihrem nahen Umfeld gegenüber spürbar werden lassen.
Trauma ist wohl die am meisten geleugnete, ignorierte, verharmloste, bestrittene, missverstandene und unbehandelte Ursache für menschliches Leiden.
Peter Levine, Psychotraumatologe
Das Trauma und seine Folgen
Im Erleben von Traumata und dessen Folgen gibt es individuelle Unterschiede und so löst auch nicht jedes Trauma notwendigerweise Traumafolgestörungen aus. Im besten Fall gelingt eine Bewältigung der traumatischen Erlebnisse, sodass Betroffene diese in ihre Biografie integrieren (ihren Frieden damit finden) oder positiv kompensieren (durch regenerative Maßnahmen ausgleichen) und somit eine Salutogenese eintritt (Erhaltung von Gesundheit). Schützende Faktoren hierbei können bspw. eine emotional stützende Atmosphäre, verlässliche Bezugs- und Bindungspersonen, ein positives Umfeld, allgemein gute Beziehungen und Kontaktfähigkeit, selbstwerterhöhende Tätigkeiten, ein aktiver Bewältigungsstil und allgemein stärkere Resilienzfähigkeit sowie eine geringe Risikogesamtbelastung sein. Im Falle pathologischer Entwicklung (Entstehung von Krankheit), muss es nicht, kann es jedoch neben dem erlebten Trauma zu verschiedenen anderen Traumafolgestörungen kommen.
Diagnostisch kann sich ein Trauma in einer akuten Belastungsstörung, Anpassungsstörung oder Posttraumatischen Belastungsstörung zeigen, aus denen heraus sich weitere psychische Folgestörungen entwickeln können wie bspw. dissoziative Störungen, affektive Störungen (Depression, Angst…), Persönlichkeitsstörung (Borderline, emotionale Instabilität…), diverse Abhängigkeits- oder Zwangserkrankungen (Drogen, Alkohol, Essen…), psychosomatische Erkrankungen (Schlafstörungen…) begleitend von zusätzlichen, sozialen Problemen (Rückzug, Aggression, Trennung…). Zu den Risikofaktoren für die Entstehung von psychischen Krankheiten und weiteren Problemen zählen hierbei bspw. keine verlässliche Bezugspersonen, kaum soziale Kontakte, Scheidung der Eltern, ein niedriges Selbstwertgefühl oder junges Alter, Entwicklungsverzögerung und ein niedriger sozio-ökonomischer Status sowie eine hohe Risikogesamtbelastung.
Die Hauptsymptome von Traumata sind Intrusion (Flashbacks/wiederkehrende innere Bilder, Alpträume), Vermeidung und Hyperventilation (emotionale Übererregung). Eine Retraumatisierung geschieht dann, wenn Betroffene dieselbe Situation oder eine, die ähnliche Gefühle auslöst, erleben und dabei weiter mit traumatypischen Verhaltensweisen reagieren ohne emotionale Entlastung und Bewältigungserfahrung zu erleben. Ähnlich ist es mit sogenannten ,,Trigger’’ als Auslöser emotionaler Reaktionen. Gemeint sind hier psychologische Stimuli, welche eine unwillkürliche Erinnerung an ein früher traumatisches Erlebnis auslösen und die Präsenz des Traumas immer wieder hervorrufen – so lange, bis die Verarbeitung der Erlebnisse abgeschlossen ist. Der Reiz an sich muss nicht traumatisch sein, jedoch die damit verbundenen Assoziationen und Erinnerungen, sei es in Form eines Geruches, Geräusches, Geschmacks oder Gefühls; einer Gegend, Zeit, Person oder Wahrnehmung an die traumatische Situation. Daher sollte man vorsichtig und verständnisvoll sein mit Betroffenen in entsprechenden Situationen sowie im leichtfertigen Gebrauch umgangssprachlicher Verwendungen solcher Ausdrucksweisen.
Corona hat ein Kollektivtrauma ausgelöst.
Michaela Huber, Psychotherapeutin
Die Corona-Pandemie als traumatisches Erlebnis
Unumstritten hat die Pandemiezeit die psychische Gesundheit vieler Menschen beeinträchtigt, sei es durch die Angst vor Infektion und Krankheit, erlebte Verluste und Todesfälle, das Gefühl von Einsamkeit und Isolation, wirtschaftliche Unsicherheit und Existenzängste oder die allgemeine Sorge um eine gesicherte Zukunft und verschärfter familiärer Stress durch erhöhte Erziehungsbelastung bis hin zu häuslicher Gewalt. Daraus resultierend und darüber hinaus wird die Corona-Pandemie mittlerweile als globales Trauma angesehen: das Hereinbrechen der Pandemie ohne jegliche Vorbereitung oder Vorwarnung und die damit einhergehend persönlich empfundene Ohnmacht sowie Gefühlen des Ausgeliefertseins ohne jegliche Kontrolle über die Situation und deren unabsehbareren Ausgang sind typische traumassoziierte Merkmale.
Allerdings unterscheidet sie sich in einigen Punkte von bisherigen Traumadefinitionen darin, dass es sich um ein äußerst komplexes, globalisiertes Geschehen mit Unklarheit hinsichtlich Ausmaß und zeitlicher Dauer handelt, bei der von fortlaufenden bzw. zukünftigen Stressreaktionen auf mehr indirekte Traumaexposition auszugehen ist. Verschiedene Studien belegen deutlich erhöhte Ausprägungen von Traumafolgesymptomen von Wiedererleben, negativer Affektivität, dissoziativen Symptomen, Vermeidung und Übererregtheit aufgrund von Erfahrungen in Pandemiezeiten. Erhöhte Werte für Depressivität, Ängstlichkeit, Wut, Stresssymptome und Schlafstörungen sind vor allem in Lockdown-Zeiten, durch Quarantänemaßnahmen und besonders bei jüngeren oder älteren Personen, Frauen, Alleinstehenden, Arbeitslosen und Menschen mit niedrigem Einkommen vorzufinden. Untersuchungen zeigen, dass sich die Zahl psychiatrischer Diagnosen verdoppelt habe und dass sich bei Menschen mit bereits vorhanden psychischen Belastungen eine Verstärkung der Symptome entwickelt habe. Die psychosozialen Folgen der Pandemie müssen folglich nicht nur zukünftig bei Maßnahmen zur Eindämmung von Pandemien als integraler Bestandteil berücksichtigt werden, sondern auch aktuell mit dem Wissenshintergrund wahr- und ernstgenommen sowie aufgearbeitet und behandelt werden.
Ich habe mich bisher aus Angst vor Diagnosen nicht getraut darüber zu sprechen und bildete mir zugleich ein: es war doch alles nicht so schlimm.
(Anonym)
Traumaberatung in psychosozialen Arbeitsfeldern
Aufgrund erhöhter psychischer Belastungen vor dem Hintergrund einer bestehenden psychischen Versorgungslücke zugleich erhalten zusätzlich ausgebildete und aufgeklärte Beratungsstellen im Bereich von Trauma eine erhöhte Bedeutung. Abgrenzend zur Traumatherapie handelt es sich bei der Traumaberatung nicht um die Behandlung von Krankheiten mit Störungswert oder ein Durcharbeiten tiefergehender traumatischer Themen im Sinne von Wiederherstellung und Persönlichkeitsumgestaltung. Es wird nicht in das Trauma hineingegangen – es geht um Hilfe und Beratung hinsichtlich dem Umgang mit Traumafolgen statt Heilung und Behandlung des Traumas selbst. Der Fokus liegt auf dem psychosozialen Netzwerk statt auf einer dyadischen Beziehung und die Gespräche dienen zur Bestärkung im Hier-und-Jetzt mit dem Ziel der Entwicklung und Vorbeugung seelischen Gleichgewichts. Ein solches Angebot kann auf vielerlei Weise hilfreich und bedeutsam sein, sei es als niedrigschwellige und schnell zugängliche Anlaufstelle oder als überbrückende Maßnahme zur therapeutischen/psychiatrischen Anbindung. Wichtig bleibt nämlich eine zeitnahe Auseinandersetzung mit den vergangenen oder gegenwärtigen Belastungen, um zukünftig einer Chronifizierung oder Entwicklung weiterer Folgestörungen vorzubeugen. Vor allem in psychosozialen Arbeitsfeldern, wo die Nähe und Erreichbarkeit zu psychisch belasteten Menschen bereits gegeben ist, bedarf es einer Sensibilisierung und Aufstellung im Bereich von Trauma, seinen Folgen und dem Bezug zu bestehenden Pandemiethemen.
Quellen
Illustrationen aus dem Comic „Through The Dunes“ von Lucie Langston (2020), https://lucielangston.de/through-the-dunes
Bach, Michael & Bitterlich, Waltraud (2021). COVID-19 und Traumafolgesymptome: repräsentative Daten aus Österreich. psychopraxis neuropraxis. 24(5): 299–303. doi: 10.1007/s00739-021-00748-7
Deutscher Bundestag (2022). Dokumentation: Zu den Auswirkungen der Coronapandemie auf die psychische Gesundheit: Studien und weitere Veröffentlichungen. https://www.bundestag.de/resource/blob/895608/d76c06ceba31d5a3401ffc1f3268de79/WD-9-018-22-pdf-data.pdf
Eibel, Karin (2023). Was ist ein Trauma? (abgerufen am 17.5.2023) https://www.traumatherapie-karin-eibl.de/was-ist-ein-trauma
Weyh, Laura-Anna (2022). „Corona hat ein Kollektivtrauma ausgelöst“: Interview mit der Kasseler Psychotherapeutin Michaela Huber über gesellschaftliche Krisen. https://www.hna.de/kassel/corona-hat-ein-kollektivtrauma-ausgeloest-interview-mit-der-kasseler-psychotherapeutin-michaela-huber-ueber-gesellschaftliche-krisen-91737793.html
Charf, Dami (2023). Was ist ein Trauma? (abgerufen am 17.05.2023)
https://traumaheilung.de/was-ist-ein-trauma-3/
Traumaambulanz der Psychotherapie-Ambulanz der WWU (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) (2023) Trauma & Traumafolgen (abgerufen am 17.05.2023)
https://www.uni-muenster.de/Traumaambulanz/trauma_traumafolgen/index.html
Beushausen & Schäfer (2021): Traumaberatung in psychosozialen Arbeitsfeldern: Eine Einführung für Studium und Praxis
Fischer & Riedesser (2003): Lehrbuch der Psychotraumatologie
Institut für Traumabearbeitung und Weiterbildung (2021): Curriculum: Fachberaterin für Psychotraumatologie