Psychologische Mythen
Wer kennt sie nicht, solche Aussagen wie: „Wir benutzen nur 10% unserer Gehirns“ oder „Säuglingen Mozart vorzuspielen, erhöht ihre Intelligenz“? In unserem Alltag begegnen wir oft psychologischen Mythen und Annahmen, die zwar wissenschaftlich klingen, es aber nicht sind. Dabei können solche Mythen extreme negative Auswirkungen haben und z.B. zu Stigmatisierung von Personen führen oder dazu, dass wir falsche Entscheidungen bei der Arbeit treffen.
Von Alena Fleischmann
Wie entstehen Mythen?
Hinter der Entstehung psychologischer Mythen können verschiedene Mechanismen stecken z.B.:
- Ein Wunsch nach einfachen Antworten und schnellen Lösungswegen
- Mundpropaganda
- Die falsche oder nur teilweise richtige Darstellung von einem Thema in den Medien
- Die Übertreibung bei der Darstellung eines Faktes
- Terminologische Verwirrung: Fachbegriffe sind nicht immer gleich definiert zwischen verschiedenen Disziplinen oder werden von Fachleuten anders definiert als von der allgemeinen Bevölkerung. Dies kann zur Verwirrung führen bei der Interpretation von Forschungsergebnissen oder der Übersetzung von Fachartikeln in Nachrichtenartikel und so schließlich einen Mythos auslösen.
- Selektive Wahrnehmung: Begrenzte oder einseitige Wahrnehmung angebotener Informationen und Reize
Bestätigungsfehler: Neigung Informationen zu bevorzugen oder diese so zu interpretieren wie sie zu eigenen Erwartung passen. - Verwechslung von Korrelation und Kausalität: Nur weil etwas zusammenhängt (korreliert), liegt keine Verursachung vor. Es muss keine Ursache-Wirkungs-Beziehung herrschen. Nur weil wir im Sommer viel Eis essen und gleichzeitig oft Sonnenbrand haben, lässt sich nicht schließen, dass Eisessen Sonnenbrand auslöst.
- Post hoc ergo propter hoc Fehlschluss: Nur weil zwei Ereignisse nacheinander auftreten hat Ereignis A nicht Ereignis B verursacht. Beispiel: Ich trinke morgens nicht meine normale Tasse Kaffee und vergesse dann später meinen Schlüssel. D.h. nicht, dass mein Nicht-Kaffee trinken die Ursache für das Vergessen des Schlüssels war.
- Die Übertreibung bei der Darstellung eines Faktes
- Verzerrte Stichprobe bei einer Untersuchung: Bei Versuchen können verzerrte Stichproben dazu führen, dass Ergebnisse nicht übertragbar und repräsentativ sind. Sie können so zu zu falschen Schlussfolgerungen führen.
- Repräsentativitätsheuristik: Dies bezeichnet eine Entscheidungsregel, die uns die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen danach bewertet lässt, wie genau sie bestimmten Prototypen oder Kategorien entsprechen. Diese Einschätzung kann aber irreführend sein.
Natürlich können verschiedene Mechanismen auch zusammen wirken und so zur Entstehung einer Mythe führen.
Warum sind psychologische Mythen so gefährlich?
Psychologische Mythen können zu falschen oder unvollständigen Informationen führen bei Themen wie:
- Psychischen Erkrankungen, ihren Auswirkungen und dem Umgang mit diesen
- Verhaltensweisen von Menschen z.B. zu Motivation, Leistungsfähigkeit und Einfluss von Situation vs. Persönlichkeit
- Funktionsweise unserer Gehirne
Falsche Informationen in diesen Bereichen führen zu:
- Fehleinschätzungen von Menschen und Situationen
- Fehlentscheidungen aufgrund falscher Annahmen
- Stigmatisierung von psychisch kranken Menschen
Dies kann zu sozialen, psychologischen aber auch ökonomischen Schaden führen!
Um die Auswirkungen etwas greifbarer zu machen, hier ein paar Beispiele:
Mythos: “Persönlichkeitsstörungen hat man sein Leben lang.”
Fakt: Persönlichkeitsstörungen sind maximal mittelfristig stabil. So haben nach 2 Jahren nur noch 40-60% die vorher diagnostizierte Persönlichkeitsstörung.
Auswirkung des Mythos:
- Wegfall von Chancen, da die Person schon als hoffnungsloser Fall gilt
- Stigmatisierung von Personen mit Persönlichkeitsstörung
Mythos: “Wir können neue Informationen im Schlaf lernen.”
Fakt: Man kann im Schlaf keine neuen Fertigkeiten oder Informationen lernen.
Auswirkung des Mythos:
- Ineffektives und ineffizientes Lernen
- Prokrastinieren, da man meint, Nachts im Schlaf zu „lernen“
- Frustration und Selbstwertminderung, da man nicht im Lernen voran kommt und scheinbar unfähig ist diese einfache „Lernmethode“ zu nutzen
Mythos: “Die meisten psychisch kranken Menschen sind gewalttätig.”
Fakt: Ca. 90% aller psychisch kranken Menschen werden nie eine Gewalttat begehen. Sie sind wesentlich wahrscheinlicher Opfer von Gewalt, als Täter zu sein.
Auswirkungen des Mythos:
- Stigmatisierung psychisch kranker Menschen
- Teilweise Vorverurteilung
- Eskalation von Konfliktsituationen mit psychisch kranken Menschen durch die anderen Parteien des Konflikts, da sie Angst vor einem Gewaltausbruch haben, sie werden dann als Vorsichtsmaßnahme zuerst gewalttätig
Mythos: “Menschliche Erinnerung ist wie eine Filmaufnahme der erlebten Situation.”
Fakt: Menschliche Erinnerung sind fluide, veränderbar und oft nicht zuverlässig.
Auswirkungen des Mythos:
- Überschätzung der eigenen Erinnerungsfähigkeit und das nicht notieren/festhalten wichtiger Informationen und die Konsequenzen die daraus folgen
- Überschätzung von Zeugenaussagen
Diese Auswirkungen und Beispiele zeigen wie wichtig es sein kann psychologische Mythen zu erkennen.
Wie erkenne ich psychologische Mythen?
Psychologische Mythen können sehr viel Schaden anrichten von daher ist es wichtig sie möglichst früh als solche zu erkennen. Viele Mythen erkennt man an folgenden Punkten:
Es gibt keine vertrauenswürdigen Quellen: Wenn man etwas liest oder hört, sollte man nach der Quelle schauen oder fragen. Gute und vertrauenswürdige Artikel haben im Normalfall mehrere Studien die zitiert werden oder anerkannte Fachbücher auf die Bezug genommen wird. Wenn jemand etwas erzählt, sollte man nachfragen woher die Information kommt.
Anekdotisches Beweismaterial: Oft werden Mythen durch anekdotisches Beweismaterial unterlegt. Ein klassisches Beispiel ist die Mythe “Gegensätze ziehen sich an”, viele Personen haben Geschichten, die diese Mythe zu bestärken scheinen. Wenn ein Artikel oder eine als Fakt dargestellte Aussage keine Studien, sondern nur einzelne Fallbeispiele oder Geschichten als Grundlage hat, sollte dies mit Skepsis betrachtet werden.
Extreme Formulierungen wie „immer“, „auf jeden Fall“, „100%“: In der Psychologie werden Worte wie „immer“, „auf jeden Fall“, „100%“ nicht genutzt. Wenn diese in als Fakten dargestellten Aussagen auftauchen, fand zu mindestens eine übertriebene Darstellung eines Faktes da, wenn es überhaupt um einen Fakt geht. Bei diesen Wörtern und anderen extremen Wörtern sollte man hellhörig werden.
Verurteilende Sprache: Ein weiteres Sprachmerkmal, bei dem man hellhörig werden sollte, ist verurteilende Sprache. Auch hier ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass selbst wenn ein Fakt irgendwo zu Grunde liegt, die Darstellung nicht mehr diesem entspricht und die Aussage so wie sie getroffen wurde eine Mythe ist.
Natürlich wird man nicht jede Mythe mit Hilfe dieser vier Punkte erkennen können, sie helfen aber schneller zu bemerken, dass man es eventuell mit einer Mythe zu tun hat und den Blick für Mythen zu schärfen.
Weitere Informationen und zusätzliche Beispiele für psychologische Mythen im Alltag erfahren Sie in einem Vortrag von Alena Fleischmann.
Quellen:
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