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Von Daniel R. Schmidt (d3smedia)

In den letzten 19 Jahren meiner beruflichen Laufbahn habe ich zahlreiche Höhen und Tiefen erlebt. 2001 bin ich auf den Arbeitsmarkt gestoßen und habe als junger Flughafenmitarbeiter in meinem Lernberuf als „Servicekaufmann im Luftverkehr“ meine ersten Schritte im Rund-um-die-Uhr-Schichtbetrieb gemacht. Zwei nebenberufliche Studienausschlüsse später bin ich mittlerweile als Hochschuldozent und Freiberufler unterwegs. In all dieser Zeit habe ich diverse Level von Stressempfinden und Status psychischer Gesundheit durchlebt. Und gleichzeitig wenig Interesse von Arbeitgebern.

Der Berufseinstieg am Flughafen: Passagiere, Stress und Haltung wahren

Der pulsierende Rhythmus des Flughafenbetriebs, die Wechselhaftigkeit der Schichten und die ständige Interaktion mit Passagieren prägten meine ersten Berufsjahre. Vom ersten Tag an wurde mir klar, dass der Luftverkehr ein anspruchsvolles Umfeld mit hohen psychologischen Belastungen ist. Der Umgang mit gestressten Passagieren, das Koordinieren von Abläufen im Schichtbetrieb, der Lärm im Flughafenumfeld und die Gewährleistung komplexer Prozesse zehrten über die Jahre an meiner mentalen Verfassung. Schließlich wollte ich als junger Servicekaufmann im Luftverkehr beweisen, dass ich allzeit professionell, fachlich on-top und empathisch die professionelle Fassade wahren konnte, die meine Airline mir abforderte.

In 11 Jahren auf vier unterschiedlichen Stellen im Luftverkehr kam nur eine einzige Führungskraft jemals auf die Idee, sich nach meinem psychologischen Wohl zu erkundigen. Zugegeben: diverse Unternehmen boten Instrumente, die man heute als Betriebliches Gesundheitsmanagement zusammenfassen würde, wie Massageliegen, Ruheräume oder diverse Ausgleichs- und Sportangebote. Aber in den 2000er Jahren kam niemand wirklich auf die Idee, die mentale Verfassung in einem Personal- oder Mitarbeitergespräch anzureißen. Nicht einmal ich selbst kam damals auf die Idee, dies zu hinterfragen. Bis ich mich über die Jahre immer weiter verschliss an den körperlichen Belastungen der Schichtarbeit (ich nahm extrem an Gewicht zu, holte mir Schlafstörungen und Hypertonie), aber auch an der konstanten Belastung, tagein und tagaus mit Menschen arbeiten zu müssen. Bereits im Jahr 2011 stieg ich entkräftet aus dem Passagiergeschäft aus, wechselte den Arbeitgeber und realisierte schnell, dass ich die Branche bis zum Rentenalter nicht überstehen würde. Also beschloss ich, mir statt der Arbeit mit Menschen eine andere Belastung ans Bein zu binden – das nebenberufliche Studieren.

Andere Belastungen, anderer Stress und keinen interessiert’s

Ich arbeitete fortan in einem Simulator und sah in fünf täglichen Trainingseinheiten kaum noch Tageslicht – jederzeit getrieben vom Damoklesschwert der halbjährlichen Befristung meines Arbeitsvertrages. Meine damaligen Führungskräfte waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich selbst im Unternehmen zu halten und hatten keinerlei Interesse daran, die psychologische Verfassung ihres Teams zu reflektieren. Ich kompensierte meinen „Bore-out“ außerhalb der Simulationsstunden sowie meine Freizeit mit dem Studium. Nach drei Jahren fiel ich der Rationalisierung zum Opfer und musste erzwungenermaßen zum bislang schlimmsten meiner Arbeitgeber wechseln. Dort schrieb ich in einer Redaktion Bedienungsanweisungen für Flugzeuge. Gleichzeitig verschlimmerte sich meine private Situation: ich sackte in eine tiefe Depression, verlor den Partner und genau eine Woche, nachdem ich mich unter Klarnamen in den sozialen Netzwerken als depressiv outete, meine Stelle. Man sah in mir eine fragwürdige Ressource, der die Gesamtproduktivität des Teams drückte.

In dieser Phase lernte ich jedoch das meiste, was meinen heutigen Führungs- und Arbeitsstil prägen sollte. Denn mir war schnell klar, wie ich nicht werden wollte. In der Phase meiner eigenen Depression hätte ich mir vor allem einen einfühlsamen und unterstützenden Umgang von meinen Vorgesetzten gewünscht. Statt allein mit meinen inneren Kämpfen fertigwerden zu müssen, hätte ich mir gewünscht, dass meine Führungskräfte nicht nur die äußeren Anforderungen des Jobs im Blick hatten, sondern auch sensibel für die Belastungen meiner mentalen Gesundheit waren. Eine offene Kommunikation über die Herausforderungen, die ich durchlebte, und die Möglichkeit, darüber zu sprechen, hätte mir geholfen, das Gefühl der Isolation durch das konstant hohe Stresslevel zu durchbrechen.

Was es wirklich gebraucht hätte

Was es wirklich gebraucht hätte, um das Wohlbefinden meiner Kolleg:innen und mich zu fördern, sind konkrete Maßnahmen und eine veränderte Einstellung gegenüber Stress und psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz. Ich hätte mir damals konkret folgendes von meinen Führungskräften gewünscht:

  1. Eine Förderung der offenen Kommunikation und eine Kultur, in der offene Gespräche über den Stresslevel und die psychische Gesundheit normalisiert sind;
  2. Sensibilisierte und stress-kompetente Führungskräfte;
  3. Flexibilität und differenzierte Arbeits(zeit)modelle;
  4. Weg vom völlig rationalisierten Arbeiten ohne jede Reserve hin zu zusätzlichen Mitarbeiterressourcen;
  5. Führung durch Vorbild: selbst Stress und psychische Gesundheit thematisieren und Stigmata brechen;
  6. Regelmäßige Betrachtung der Arbeitsbelastung in Form von Arbeitszeitkonten, Überstunden, etc.

 

Indem Führungskräfte diese Maßnahmen ergreifen, könnten sie einen bedeutenden Beitrag dazu leisten, die Tabuisierung von Stress und psychischer Gesundheit zu durchbrechen und eine gesunde, unterstützende Arbeitskultur zu schaffen.

Auch heute wird das Stresslevel noch tabuisiert

Heute, im Jahr 2024, arbeite ich als Freiberufler und Hochschuldozent. Ich leite projektbezogene Teams und versuche, meine eigenen Erfahrungen hinsichtlich des Stresslevels und der psychischen Gesundheit einfließen zu lassen. Ich spreche offen darüber und biete das denjenigen an, die ich in meinen Teams führen darf. Denn ich glaube fest daran, dass Maßnahmen wie regelmäßige Gespräche über die Arbeitsbelastung, die Förderung einer gesunden Work-Life-Balance und die Bereitstellung von Ressourcen zur Stressbewältigung einen erheblichen Unterschied machen können.

Auch wenn ich jetzt die Perspektive vom Arbeitnehmer hin zum selbständigen Teamleader geändert habe, so bleibt doch ein Problem gleich. Die nach wie vor anhaltende Tabuisierung von Stresslevel und psychischer Gesundheit. In meinem Bemühen, eine unterstützende Arbeitsumgebung zu schaffen, habe ich festgestellt, dass viele Mitarbeiter:innen zögern, über ihre Stressfaktoren oder psychischen Herausforderungen zu sprechen. Manchen ist es unangenehm, andere befürchten, sie könnten als „nicht leistungsbereit oder -fähig“ wahrgenommen werden.

Die bestehenden Vorurteile und Ängste vor Stigmatisierung führen dazu, dass viele weiterhin schweigen und ihre persönlichen Belastungen verbergen. Deshalb ist es an der Zeit, dass Führungskräfte und Unternehmen aktiv gegen diese Tabuisierung angehen und eine offene, unterstützende Kultur fördern, in der mentale Gesundheit als genauso wichtig betrachtet wird wie physische Gesundheit. Dazu gehört auch die Reflektion von Stressleveln, die kontinuierliche Beurteilung von Risiken für die psychische Gesundheit und eine Offenheit für die Hochs und Tiefs von Mitarbeitenden.

Abschließend möchte ich betonen, dass die hier skizzierten Vorsätze und Empfehlungen keine bloßen Lippenbekenntnisse sein dürfen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Führungskräfte nicht nur darüber sprechen, sondern diese Prinzipien auch in die Tat umsetzen. Nur durch konkrete Handlungen kann die Tabuisierung durchbrochen und eine positive Veränderung bewirkt werden.