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Gesund durch die Erfahrung von Natur?

Natur als Existenzgrundlage und Gesundheitsfaktor

Von Jacqueline Sturm und Thies W. Böttcher

Laut dem renommierten Psychiater und Mediziner John Ratey leiden wir an einer Naturdefizit-Störung. Dadurch nehmen Krankheiten wie Diabetes, Stress oder Burnout zu. Er sagt:
Raus in die Wildnis! Weniger ist mehr.[1]

Es würde wohl tatsächlich weniger sogenannte Zivilisationskrankheiten geben, wenn wir weniger auf unsere Smartphones schauen würden und weniger von asphaltierten Straßen und Betonmauern umgeben wären. Auch könnte es gesünder sein, wenn wir weniger Zeit damit verbringen würden, sitzend an Bildschirmen zu arbeiten. Wäre es hilfreich zur Vermeidung von Krankheiten, wenn wir mehr in die „Wildnis“ gehen würden?

Was ist denn überhaupt mit Wildnis gemeint? Was dabei anklingt ist der von Menschen nicht kontrollierbare Teil von Natur – das Undurchdringliche, Unbekannte, Unberührte. Um einen Schritt mehr auf die Natur zuzugehen oder mehr Natur im Umfeld zu erfahren, ist es aber auch nicht nötig, eine Expedition in die unberührte Wildnis zu wagen. Die Natur ist ja viel einfacher zugänglich und ist vielleicht schon beim Blick aus dem Fenster erfahrbar.

Lieblingsorte in kultivierter Natur

Es macht auch wenig Sinn, auszublenden, dass der Mensch in einem komplexen, kämpferischen Verhältnis mit der Natur steht. Natur wird einerseits als Rohstoff behandelt, genutzt und zerstört und andererseits gibt es Gefahren durch die „wilde“, durch Menschen gezähmte, Natur. Die Wespe, die einem das Essen streitig macht und mit schmerzhaften Stichen droht und auch Pollen, die Allergiker:innen jede Freude an der Natur nehmen können, sind eher individuell lästig.

Selbstverständlich gibt es einfache Dinge, die für die meisten von uns erfahrbar sind: Der Spaziergang im Grünen, oder sogar eine ausgedehnte Wanderung, Rad fahren oder auch in Ruhe eine schöne Landschaft genießen. Vielleicht haben Sie auch irgendwo draußen einen Lieblingsort, an dem es besonders schön ist, eine Verbundenheit mit der Natur zu spüren. Wie würde es Ihre Lebensqualität beeinflussen, wenn dies alles einfach nicht mehr da wäre?[2]

Die Natur liefert uns Luft, Wasser und Nahrungsmittel. Sie ist unsere Existenzgrundlage. Und in üblicher Ausdrucksweise ist mit Natur selbstverständlich nicht nur eine gefährliche Wildnis gemeint, sondern auch Bäume, Pflanzen und Tiere in Parks oder auch nur die eigene Zimmerpflanze auf dem Fensterbrett. Das, was wir meist als erholsame „Natur“ begreifen, liegt irgendwo zwischen reiner Natur und menschlich geschaffenem Artefakt. Wir bewegen uns in kultivierter Natur.[3][4]

Die positive Wirkung der Natur auf die Gesundheit

Seit den Nullerjahren gibt es vermehrt Forschung aus der Psychologie-, Psychiatrie- und Public-Health-Forschung, in der die positive Wirkung der Natur auf physische und psychische Gesundheit untersucht wird. Die Intuition, dass es gesund ist, mal rauszugehen und allgemein grüne Parks und Landschaften zu erhalten, wird wissenschaftlich untermauert. Die Wirkung der Natur zeigt sich auf körperlicher, sozialer, mentaler und psychischer Ebene.

Die Liste der positiven Effekte der Natur auf unsere psychische Gesundheit ist lang:[5]

  • Vegetation wirkt als Lärmschutz und verdeckt unschöne Bauwerke.
  • In Wohngebieten ermöglichen Bäume, Hecken und großzügige Grünflächen Privatsphäre und verhindern Menschengedränge.
  • Die Natur bietet Zuflucht vor sozialen und physischen Stressoren (Verkehr, Lärm, enge Wohnverhältnisse).
  • Erholung im Freien bedeutet auch die Bewunderung und ästhetische Wertschätzung schöner Landschaften. Es ist möglich, sich in Natur geborgen zu fühlen und Resonanzerfahrungen machen.
  • Die mühelose Aufmerksamkeit, die auf (kleine) Aspekte in der Natur gerichtet wird (z.B. Insekten, Blumen, Gerüche, das Rascheln der Blätter im Wald etc.) ermöglicht eine Erholung von erschöpfender, gewollt-fokussierter Aufmerksamkeit. („attention restoration theory“)
  • Weniger Ärger, Fatigue, Angst und Traurigkeit und ein Anstieg der subjektiv empfundenen Energie
  • Steigerung der Aufmerksamkeit/Achtsamkeit
  • Die Selbstdisziplin von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom wird durch Kontakt mit Natur gesteigert


Insgesamt hat Kontakt mit der Natur ein hohes Potential, Gesundheitsprobleme wie etwa chronischer Stress oder Aufmerksamkeitsstörungen zu vermeiden und die Lebensqualität zu steigern. Die Form dessen, was dabei als „Natur“ definiert wird, ist nicht so entscheidend. Es gibt allerdings Studien, die darauf hinweisen, dass es wichtig sein könnte, dass der Natur-Kontakt regelmäßig stattfindet [6] und dass es wichtig ist, dass die Erfahrungen mit der Natur vielfältig sind. [7]

Studien: Wände anschauen und in der Natur spazieren gehen

Können Sie sich vorstellen für die Forschung 5 Minuten eine Backsteinwand anzuschauen? Genau dies musste die Vergleichsgruppe in einer experimentellen Studie tun, die zeigte, dass Natur das Stresshormon Cortisol abbaut und der Heilungsprozess nach einer Gallenblasenentfernung beschleunigt wird. Zudem konnte gezeigt werden, dass Schmerzen durch Naturerfahrung gelindert werden können. Die positive Wirkung wurde natürlich nicht durch den Blick auf die Backsteinwand erreicht, sondern durch die fünfminütige Betrachtung einer Baumgruppe.[8]

Neben dem Einfluss auf postoperative Genesung haben Forscher z.B. auch die Wirkung von Spaziergängen in der Natur auf negative Gedanken und Grübeln untersucht. Ausgiebige Spaziergänge in der Natur verringern Grübeleien.

Wissenschaftler:innen haben 38 psychisch gesunde Großstadtbewohner:innen untersucht, die sich aufgrund des Lebens in der Großstadt gestresst fühlen und generell eine grüblerische Veranlagung haben. Diese sollten erst 90 Minuten in der Natur und dann in der Stadt spazieren gehen. In der Natur hat sie die Aktivität des präfrontalen Cortex verringert. Das ist ein Bereich im Gehirn, in dem negative Emotionen reguliert werden. Dieser Bereich ist bei der Ausbildung von Depressionen besonders aktiv. Bei einem Spaziergang in der Stadt hat sich hier keine Veränderung gezeigt.[9]

Die Natur kann also dabei helfen, negative Gedanken abzuschalten und sich auf positive Gefühle zu konzentrieren. Welche Landschaft hier am besten hilft, ist bei jedem anders, wichtig scheint allerdings zu sein, dass die Natur möglichst unberührt ist.[10]

Es gibt sogar Studien zu sogenannten „Therapiegärten“. In diesen Gärten hat sich die psychische Verfassung von Patient:innen signifikant verbessert.

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[1] Ratey, John J. & Manning, Richard (2014): Zivilisationskrank. Wie wir unsere biologische Natur mit dem modernen Leben versöhnen. Köln: Bastei Lübbe AG

[2] Krebs, Angelika (2014). Why landscape beauty matters. Land, 3(4), 1251-1269: 1251

[3] Vgl. ebd.: 1255

[4] Hartig, T., Mitchell, R., De Vries, S., & Frumkin, H. (2014). Nature and health. Annual review of public health, 35, 207-228: 208

[5] Ebd.: 216-218

[6] Shanahan, D. F., Bush, R., Gaston, K. J., Lin, B. B., Dean, J., Barber, E., & Fuller, R. A. (2016). Health benefits from nature experiences depend on dose. Scientific reports, 6(1), 1-10.

[7] Chang, C. C., Oh, R. R. Y., Le Nghiem, T. P., Zhang, Y., Tan, C. L., Lin, B. B., … & Carrasco, L. R. (2020). Life satisfaction linked to the diversity of nature experiences and nature views from the window. Landscape and Urban Planning, 202

[8] Brämer, Rainer: Grün tut uns gut. Daten und Fakten zur Renaturierung des High Tech Menschen. In: Natur subjektiv. Studien zur Natur – Beziehung in der High Tech Welt (5/2008)

[9] Bratman, G. N., Hamilton, J. P., Hahn, K. S., Daily, G. C., & Gross, J. J. (2015). Nature experience reduces rumination and subgenual prefrontal cortex activation. Proceedings of the national academy of sciences, 112(28), 8567-8572.

[10] Ebd.